Quelle: Imago, Urheber: Alexander Limbach
Künstliche Intelligenz wird zum unverzichtbaren Werkzeug für Anwälte
Künstliche Intelligenz wird zum unverzichtbaren Werkzeug für Anwälte
Quelle: Imago, Urheber: Alexander Limbach
Generative KI (Gen AI) verändert die Arbeitsweise in vielen Kanzleien grundlegend durch Automatisierung von Prozessen, juristische Recherchen und Dokumentenanalyse. Laut einer Umfrage im Oktober 2024 nutzen 76% der Juristen in Rechtsabteilungen und 68% ihrer Kollegen in Kanzleien Gen AI mindestens wöchentlich, wobei mehr als ein Drittel diese Technologie sogar täglich verwendet. Obwohl es seit Jahren KI-gestützte Software gibt, brachte erst das Aufkommen von Large Language Models (LLMs) vor zwei Jahren entscheidenden Schwung.
Text: Stefan Merkle
„Mit ChatGPT und ähnlichen Modellen hat das Thema KI die Rechtsbranche wie ein Paukenschlag erreicht“, sagt Stefan Schicker. Der Partner der Kanzlei SKW Schwarz und Vorstandsvorsitzende des Legal Tech Verbands Deutschland ist nicht nur Rechtsanwalt. Er ist auch Programmierer und berät mit seinem Unternehmen Inspiring Pioneers Kanzleien und Unternehmen bei der Integration von künstlicher Intelligenz (KI) und Legaltech. Weil diese Modelle Sprache verstehen und generieren können, werden sie als Gen AI eingeordnet. Sie sind für Juristen besonders spannend, schließlich ist Sprache das zentrale Arbeitsmittel in der Rechtsberatung. Hier liegt auch der entscheidende Unterschied zu bisherigen KI-Ansätzen für die Branche. Diese basierten auf anderen Methoden des maschinellen Lernens. Die Mehrzahl verschwand wieder vom Markt, da der Nutzen und die Effizienz häufig hinter den Erwartungen zurückblieben, berichtet Schicker. Der Wendepunkt war die Veröffentlichung von ChatGPT Ende 2022. Genau genommen handelt es sich dabei lediglich um ein Interface, über das mit einer Familie von OpenAI entwickelter Sprachmodelle, genannt Generative Pre-trained Transformer (GPT), interagiert werden kann. Diese einfache Zugänglichkeit löste jedoch einen regelrechten Hype aus. Andere Bigtechs machten ebenfalls Modelle zugänglich, beispielsweise Google mit Gemini, Meta mit Llama oder Alibaba mit Qwen.
Der Wettbewerb sorgte auch dafür, dass es immer günstiger und einfacher wurde, diese Modelle in eigene Anwendungen einzubinden. „Tools auf Basis von LLMs schossen seither wie Pilze aus dem Boden“, sagt Schicker. Inzwischen komme es zu einer Konsolidierung, auch weil die großen Modelle mit jedem Update mehr Anwendungsnischen abdecken, welche bislang einzelne Tools ergänzen mussten. Diese Nischen schließen sich, spezielle KI-Tools für Immobilienrecht beispielsweise spielen keine Rolle mehr.
Microsofts Copilot als Einstiegslösung bei GvW
Entscheidend für KI im internationalen Rechtssegment wird damit immer mehr das Sprachmodell selbst. Dabei kommen LLMs auch direkt zum Einsatz. Die Wirtschaftskanzlei GvW Graf von Westphalen nutzt unter anderem zum Einstieg Copilot, ein auf ChatGPT basiertes Modell von Microsoft. Dieses werde zwar dem tatsächlichen Bedarf einer Kanzlei noch nicht gerecht, werde aber in den kommenden Jahren effizienter, meint Ava A. Moussavi, die bei GvW den Bereich Legal Operations & Tech leitet. Ein Mehrwert sei, dass GvW eine Microsoft-Strategie fahre, also auch andere Anwendungen des Softwareunternehmens nutze, mit denen Copilot Zugriff auf Unternehmensdaten nehmen kann. „So können wir langfristig effizienter in beispielsweise Outlook oder Teams arbeiten“, sagt Moussavi. Selbstverständlich geschieht dies datenschutzkonform mit Zugriff auf eine eigene Microsoft-Instanz.
„Copilot ist die kanzleiweite Einstiegslösung.“
Ava A. Moussavi, Rechtsanwältin, Leiterin Legal Operations & Tech, GvW
„Copilot ist die kanzleiweite Einstiegslösung“, sagt Moussavi. Alle Mitarbeiter der Kanzlei können Copilot für einfache Assistenzaufgaben wie das Verfassen von E-Mails oder das Konvertieren von Dateien nutzen. Es gehe vor allem darum, die Kolleginnen und Kollegen sozietätsweit im Umgang mit Gen AI und Themen wie Prompting vertraut zu machen, sagt Moussavi. „Wir haben deshalb vom ersten Tag an gesagt, wir verbieten nicht KI-Lösungen, sondern stellen den richtigen, datenschutzkonformen Rahmen zur Verfügung.“ Es sei ausdrücklich gewünscht, dass sich alle damit auseinandersetzen. Dafür gibt es auch Schulungen für die unterschiedlichen Berufsgruppen der Kanzlei. Als Tool für die Rechtsberatung sei Copilot aber nicht einzustufen, betont Moussavi, auch wenn sich damit auf die Schnelle mal zwei Urteile vergleichen ließen. Sie erwartet jedoch, dass die Use Cases in den nächsten zwei Jahren noch zunehmen. Auf den nächsten Ebenen kommen deshalb bei GvW spezielle KI-Tools für den Rechtsmarkt zum Einsatz. „Das sind sowohl größere als auch kleinere Unternehmen, die vor allem im europäischen Markt aktiv sind“, erklärt Moussavi. Namen möchte sie nicht nennen, weil einige Auswahlverfahren noch nicht abgeschlossen sind. Die Anwendungen helfen beispielsweise bei der Due Diligence und der Auswertung von Datenbanken. „Auch auf Mandatsebene sehen wir einen Bedarf, vor allem, wenn wir Massenverfahren oder größere Mandate haben, dann haben wir unterschiedliche Ansätze.“ Dies seien dann Tools, die speziell für ein Mandat angepasst werden. Im Immobilienrecht etwa wäre das bei größeren Transaktionen relevant. Dabei sei die Leistungsfähigkeit inzwischen bis auf dem Niveau einer Juniorposition angelangt, sagt Moussavi.
Grauzone: KI und Geheimnisschutz
Tatsächlich sind die großen LLM-Anbieter längst auf die Bedürfnisse des Rechtsmarkts aufmerksam geworden. OpenAI beispielsweise liefert die grundlegende KI-Architektur und -Fähigkeiten von Harvey, der wohl führenden und international bekanntesten KI-Plattform für juristische Anwendungen, mit der auch GvW sich auseinandersetzt. Zugleich ist OpenAI der wichtigste Geldgeber des kalifornischen Start-ups, das unter anderem mit Gleiss Lutz oder PwC kooperiert. Eine weitere große Plattform, CoCounsel 2.0 von Thomson Reuters, nutzt gleich mehrere LLMs im Hintergrund. Die Kanzlei CMS Hasche Sigle nutzt ebenfalls Harvey, Copilot und weitere wie June und die großen LLMs. Nathalia Schomerus, die seit 2022 das KI-Team bei CMS aufbaut und leitet, sieht allerdings eine grundlegende Problematik bei der Zusammenarbeit und Nutzung von US-Dienstleistern wie Harvey. „Der Grund dafür ist der anwaltliche Geheimnisschutz“, erklärt Schomerus.
Blick von oben auf das Silicon Valley: Ein Hotspot der technologischen Revolution, in dem KI-Lösungen entwickelt werden, die die Rechtsbranche neu gestalten. Quelle: stock.adobe.com, Urheber: MichaelVi
Der Knackpunkt liege in der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO), wonach Daten nicht ohne weiteres an ausländische Dienstleister gegeben werden dürfen. Es sei umstritten, ob dies auch gelte, wenn es sich um ein deutsches Tochterunternehmen handele und die Server beispielsweise in Frankfurt stünden, sagt Schomerus. „Es ist deswegen schwierig, weil diese Tochterunternehmen nach dem US Cloud Act unter bestimmten Umständen US-Behörden dennoch Zugriff auf diese Daten gewähren können.“ Das Berufsrecht würde unter Rechtsabteilungen und Kanzleien unterschiedlich ausgelegt. Es ist ein Graubereich und eine Frage der Abwägung, betont Schomerus. Zudem lasse sich einiges zwischen Mandanten, Kanzleien und KI-Anbietern vertraglich und über explizite Einwilligungen regeln. Doch noch sieht die Mehrheit der Juristen auch jenseits der BRAO signifikante Herausforderungen beim Einsatz von KI. In einer Umfrage des Dienstleisters für Fachinformationen Wolters Kluwer äußern etwa 41% der Kanzleien und 37% der Rechtsabteilungen Zweifel an der Qualität und Sicherheit von Gen AI, insbesondere in Bezug auf Datenschutz und ethische Fragen.
Xayn und CMS entwickeln mit Noxtua ein juristisches SLM
„Wir bei CMS sind sehr strikt, was das angeht. Wir nehmen den Schutz von Mandantendaten sehr ernst, sodass wir uns dafür entschieden haben, gemeinsam mit dem Berliner Start-up Xayn von Grund auf ein eigenes Sprachmodell zu entwickeln“, sagt Schomerus. Das Modell trägt den Namen Noxtua und wurde ausschließlich mit juristischen Daten gefüttert. Es ist beispielsweise im Gegensatz zu ChatGPT oder Claude nicht darauf trainiert, Gedichte im Stile Schillers zu verfassen oder ein Schulreferat über Fotosynthese vorzubereiten. Vereinfacht formuliert spart der Fokus auf ein Themengebiet Rechenkapazität und Entwicklungskosten.
Xayn ist spezialisiert auf solche Small Language Models (SLMs), das Start-up ist aus einem entsprechenden Forschungsprojekt an der University of Oxford sowie dem Imperial College London hervorgegangen. Ein konkurrenzfähiges LLM wäre angesichts von Entwicklungskosten im Milliardenbereich auch für eine große Kanzlei wie CMS eher nicht zu stemmen. Selbst die wohl größte deutsche KI-Hoffnung Aleph Alpha hat jüngst mitgeteilt, den Fokus von großen Sprachmodellen weg hin zu einem KI-Betriebssystem und Beratung zu verlagern. Das Start-up, das nach eigener Aussage allein im vergangenen Jahr mehr als 500 Mio. USD eingesammelt hat, begründete dies mit der harten Konkurrenz der großen US-Anbieter.
„Wir haben uns dafür entschieden, gemeinsam mit dem Berliner Start-up Xayn von Grund auf ein eigenes Sprachmodell zu entwickeln.“
Nathalia Schomerus, Leiterin KI-Team, CMS
Im Gegensatz zu den größeren Sprachmodellen, die auf riesigen Datenmengen trainiert werden und eine umfangreiche Rechenleistung benötigen, welche nur durch die Anbindung an eine Cloud gewährleistet werden kann, sind SLMs aufgrund ihrer geringen Größe und Anzahl an Parametern ressourcenschonender. Sie können auch auf einem Handy, einem Laptop oder auf in Autos verbauten Recheneinheiten betrieben werden, was den größten Innovationstreiber für diese Technologie darstellt. Für die Kanzlei CMS ist der entscheidende Vorteil die Unabhängigkeit von den Rechenzentren der meist ausländischen außereuropäischen LLM-Anbieter, da Noxtua ausschließlich die Clouds europäischer Anbieter nutzt. Noxtua kann somit, sowie durch die Abgabe der notwendigen Erklärungen, alle berufs- und datenschutzrechtlichen Vorgaben für Anwält:innen aus Deutschland sicher erfüllen. Der geringere Energieverbrauch eines SLM im Vergleich zu LLMs könne zudem in Bezug auf ESG-Kriterien relevant werden, merkt Schomerus an. Ein weiterer Vorteil von Noxtua ist der Fokus auf die deutsche Rechtslandschaft. Die großen LLM-Anbieter kommen schwer an die Daten heran, die für das landesspezifische KI-Training notwendig wären. Ein Problem ist, dass in Deutschland nur ein Bruchteil der Urteile überhaupt digitalisiert veröffentlicht wird.
Eine Allianz für Legal AI aus Deutschland
Noxtua wurde zum Start mit von CMS eigens dafür erstellten, anonymisierten Daten trainiert. Das hat besonders im Bereich deutsches Immobilienrecht ein breites Fundament gelegt, wie CMS-Immobilienrechtler Volker Zerr erklärt: „Weil wir die größte deutsche Wirtschaftskanzlei sind, haben wir eine sehr große Datenbasis. Wir haben allein bei uns im Real-Estate-Bereich über 100 Anwältinnen und Anwälte. Damit sind wir die größte Immobilienpraxis in Deutschland und verfügen über eine immense Anzahl an Kaufverträgen, an Grundstückskaufverträgen, an Bauverträgen, an Mietverträgen.“ Zudem wird das Modell weiter trainiert. Xayn und CMS haben dafür die Legal AI Alliance gegründet, an der sich Kanzleien und Unternehmen beteiligen und juristische Dokumente zum Training der KI bereitstellen können. Im Gegenzug können sie am Umsatz von Xayn beteiligt werden. Jüngstes Mitglied der Allianz ist die Kanzlei Nordemann.
„KI schafft natürlich Geschwindigkeit in den Verhandlungen, es ist ja auch immer entscheidend, wer das erste und beste Drafting macht.“
Volker Zerr, Rechtsanwalt, Immobilienrecht, CMS
Am Markt ist Xayns Modell Noxtua für alle lizenziert, es gehört Xayn und kann über ein Chat-Interface verwendet oder via API in bestehende Systeme integriert werden. Das gilt auch für die Entwickler von Software. Inzwischen bietet beispielsweise Clausebase seinen Nutzern die Wahl, ob die Tools auf Basis von großen LLMs oder Noxtua laufen sollen. Das belgische Unternehmen hat unter anderem Clausebuddy entwickelt, ein KI-gestütztes Drafting-Toolset, das mit Microsoft Word und Outlook verbunden werden kann. CMS nutzt Clausebuddy bereits: „Das ist ein Quantensprung für Anwälte“, sagt Zerr, „wenn ich in einer Verhandlungssituation bin und zum Beispiel eine Staffelmiete ergänzt werden soll, kann ich die gewünschten Bedingungen in Stichpunkten eingeben und die KI erstellt auf Knopfdruck Vorschläge für die entsprechenden Klauseln.“ Die können dann direkt dem Verhandlungspartner präsentiert werden. Ohne KI dauere das mindestens eine knappe halbe Stunde länger. „Das schafft natürlich Geschwindigkeit in den Verhandlungen, es ist ja auch immer entscheidend, wer das erste und beste Drafting macht“, weiß Zerr. „Da hat der Anwalt, der eine gute KI im Hintergrund hat, natürlich schon einen entscheidenden Vorteil, was Qualität und Geschwindigkeit anbetrifft.“
Bedenken und Begeisterung halten sich noch die Waage
Die Frage nach KI werde in naher Zukunft fester Bestandteil von Pitch-Requests sein, prognostiziert Zerr. Mandanten werden sehen wollen, welche KI eine Kanzlei zur Verfügung hat, glaubt er und ergänzt: „Ich habe das im Pitch auch schon öfters erlebt.“ Die Branche stellt sich darauf ein. Laut der Umfrage von Wolters Kluwer planen mehr als die Hälfte der Kanzleien (58%) und fast drei Viertel der Rechtsabteilungen (73%), ihre Investitionen in KI in den nächsten drei Jahren deutlich zu erhöhen. Die Umfrage zeigt jedoch auch, dass Bedenken fast noch ebenso groß sind wie die Begeisterung für die Vorteile von Gen AI. Kritisch betrachtet werden neben dem Mandanten- und Datenschutz auch die Herausforderungen durch die Integration von KI in Arbeitsabläufe und die Auswirkungen auf die Preismodelle. Die meisten Befragten (96%) glauben, dass Effizienzgewinne durch KI einen gewissen Einfluss auf die Verbreitung der abrechenbaren Stunde haben werden. Die überwiegende Mehrheit erwartet, dass Gen AI die traditionellen Geschäftsmodelle verändern und den Weg für eine effizientere Leistungserbringung und innovative Preismodelle ebnen wird. Zerr denkt: „Ich bin mir sicher, dass KI in der Rechtsberatung noch eine rasante Entwicklung nehmen wird.“